In der Ecke, in der Ihr mich seht, bin ich ganz bestimmt nicht
  Helfried Strauß über 30 Jahre Lehrerdasein an der HGB, die Unmöglichkeit für ihn, die Wende zu fotografieren und ein Missverständnis

Im Vorfeld des zweiten Leipziger Fotofestivals F-Stop (16.-20.7.08) sprachen Kristin Dittrich und Robert Schimke mit dem Leipziger Fotografieprofessor Helfried Strauß, der 2008 emeritiert wird. Strauß, geb. 1943 in Plauen, studierte an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst bei Heinz Föppel und wurde 1978 Assistent an der Akademie. Nach einer dreijährigen Tätigkeit als angestellter Fotograf beim Berliner Verlag kehrte er an die Hochschule zurück, wurde 1987 Dozent für Fotografie. 1992 wurde er zum Professor und Leiter einer Fachklasse für künstlerische Fotografie berufen.

F/Stop: Sie waren 30 Jahre lang Lehrer an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Nun gehen Sie in den Ruhestand. Die HGB gilt heute als wichtige Ausbildungsstätte für künstlerische Fotografie. Was stand damals im Vordergrund der Lehre in Leipzig, was ist es heute?

Helfried Strauß: Ich weiß nicht, ob es angebracht ist, mit einem Autoritätsbeweis zu beginnen. Es gab 1993 die berühmte Ausstellung „100 Jahre Fotografie“ an der Hochschule. Wir hatten, größenwahnsinnig wie wir waren, Peter Galassi (Anm-d.Red.: Fotografiekurator am MoMA, New York) eingeladen. Galassi geht durchs Haus, ist beeindruckt. Im Festsaal hatten wir das Herzstück hängen, das aus unserem Verständnis für Leipzig sehr wichtig war. Das waren diese Nachrichten vom Menschen, sozialdokumentarische Fotografien, der Ansatz, immer wieder hinzuschauen, wie’s den Menschen geht. Das sieht Galassi und sagt: „Vieles, was sonst im Haus hängt, kenne ich und sehe ich woanders besser. Aber das hier könnt nur ihr.“ Heute sind wir soweit, dass das, was das Herzstück war, zu Ende geht.

F/Stop: Schwingt in diesem Befund ein Bedauern mit?

H.S.: Ja, Bedauern insofern, als dass meine Lehre nicht fortgesetzt wird. Wir sind jetzt gerade soweit, dass es sich in einer gewissen Breite auswirkt, dass einige meiner Leute dieses Narrative in eine neue Form überführen, Markus Uhr, Jörn Lies und andere.

F/Stop: Was wird denn mit Ihren Studenten? Betreuen Sie die alle bis zum Ende?

H.S.: Alle leider nicht. Aber ich werde den Kontakt halten. Ich war nie jemand, der für einen bestimmten Stil in der Fotografie gestanden hat, auch wenn das eine Zeit lang so aussah. Ich war immer am glücklichsten über die Leute, die mich was gelehrt haben, die auch von Anfang an sehr Eigenes getan haben, wie Erasmus Schröter, wie Florian Merkel. Das habe ich immer versucht zu erkennen, darauf basierte immer meine ganze Lehre, man könnte fast sagen: konzeptlos.

F/Stop: Das schließt an die nächste Frage an. Sie haben geschrieben, es gebe keine Idee, nichts, das sie Ihren Studenten vermitteln könnten. Was haben Ihre Studenten in den letzten dreißig Jahren von Ihnen gelernt?

H.S.: Ich hoffe Haltung, dass man zu sich selber stehen muss, dass aller Mut zum eigenen Tun auch nur von da kommen kann. Ich kann das unterstützen, ich kann Beispiele aus meiner ganzen Erfahrung geben, das war’s aber. Dieses Ermutigen schien mir immer meine Hauptaufgabe und meine Befriedigung. Das scheint mir das Wenige, das man überhaupt in einer guten Lehre tun kann.

F/Stop: In der HGB wurde zu Ihrem 65. Geburtstag eine große Retrospektive von Ihnen gezeigt. Auf den Fotos sind fast nur Hochschul-Kollegen zu sehen. Wem zollen Sie damit Tribut?

H.S.: Das sehe ich ein bisschen anders. Das ist natürlich keine Retrospek-tive. Es ist eine thematische Ausstellung, die nahe liegt in diesem Haus. Aber ich denke, dass ich damit auch zeigen kann, wie sehr mir dieser Ort nicht wirklich zur Heimat, aber notgedrungen zu einem produktiven Ort geworden ist. Das hängt auch an dieser Architektur, von der kommt man ja nicht los. Ich habe da als Student Tischtennis spielen gelernt, falsch zwar, aber das sind ja alles heimisch machende Techniken. Es war mühsam und verquer, aber wir hatten dadurch eine Freiheit. Wir waren die eigentlichen Herren. Wir haben voneinander gelernt. Die Professoren waren nett und brauchbar insofern, als dass sie uns beschützt und machen lassen haben.

F/Stop: Das Profil der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wurde nach der Wende komplett umgekrempelt. Wie haben Sie es geschafft zu bleiben? War das ein Kampf?

H.S.: Nein, es war eine Prüfung – im wahrsten Sinne des Wortes. Ich war ja der Einzige, der sich dieser Anforderung, eine Probevorlesung zu halten, gestellt hat. Ich wollte wissen, ob ich noch gut genug bin.

F/Stop: Worüber haben Sie während der Probevorlesung gesprochen?

H.S.: Ich bin einfach von meinen Bildern ausgegangen und habe sie in eine Folge gebracht. Daran habe ich die Entwicklung meiner fotografischen Ambitionen geschildert. In einem Sonderteil habe ich versucht, alles zu beschreiben, was ich in einem Bild sehe, um zu zeigen, wie ich Bildkritik betreibe. Ich saß mal beim Friseur, mit diesen Feucht-Pads auf den Augen. Vorher hatte ich gesehen, dass die Friseuse ein Mickey Mouse-T-Shirt anhatte. Da habe ich meine Minox rausgezogen und blind ausgelöst. Ein Wahnsinnsbild! Mit diesem Bild habe ich die Probevorlesung abgeschlossen. Mein Schlusssatz lautete: Abgebildeter bewirbt sich um eine Professur für Fotografie.

F/Stop: Mit Erfolg. Wer waren denn Ihre ‘Richter’?

H.S.: In der Kommission waren F.C. Gundlach, Jörg Boström und andere.

F/Stop: Lassen Sie uns ein paar Jahre zurückgehen. Wie haben Sie in den achtziger Jahren die damals sehr neuartigen Bildsprachen der künstlerischen DDR-Subkultur erlebt?

H.S.: Mag sein, dass ich da einiges unterschätzt habe. Ich habe das damals für nicht so entscheidend gehalten. Der Herbstsalon zum Beispiel ist an mir vorbeigegangen. Ich war ein Klassiker-Fan, da kann man schon Verschiedenes übersehen. Andererseits, als Florian Merkel anfing mit seinen Kolorierungen, fand ich das so was von toll, weil ich gleich sah, dass da was ganz Eigenes begann.

F/Stop: Gab es Zeiten, in denen Sie die Kamera weggelegt haben?

H.S.: Ja, zum Beispiel zur Wende. Ich bin mit über den Ring gelaufen, aber ich konnte es nicht fotografieren.

F/Stop: Weil Sie es nicht wahrhaben wollten?

H.S.: Ich weiß es nicht genau. Ich habe ganz zaghafte Ansätze gemacht, aber es ging nicht. Fotografieren ist immer auch Urteilen. Vielleicht hatte ich mir noch kein Urteil gebildet, weil ich noch nicht genau wusste, wie ich wollte, dass es ausgeht.

F/Stop: Sie dokumentieren alles, nur diese Zeit nicht. Sie, der stärkste Dokumentarist an der Hochschule, haben das einfach ausgeblendet?

H.S.: Das ist ja das Missverständnis. Ich habe mich nie als Dokumentarist gesehen. Ich habe Walter Ballhause bewundert. Ich vergleiche das, weil ich immer das Gefühl hatte, er ist ein Echter, und ich bin das nicht. Ich habe aus meinen eigenen Bildern gelernt, dass die Fotografien wichtig sind, die noch was anderes wollten. Die wichtigsten Bilder wurden immer die, die über das Dokumentarische hinaus einen Mehrwert hatten. Ich finde, der Begriff der Dokumentarfotografie ist einer der unschärfsten und missverständlichsten überhaupt.

F/Stop: Sie haben stattdessen die sich verändernde Stadt nach der Wende fotografiert. Warum sind Sie, die Sie doch immer Menschen fotografiert haben, plötzlich bei den Dingen gelandet?

H.S.: Den Bruch gab es schon viel früher. Nach der „Fähre“ hatte ich das Gefühl, ich habe meine beispielhafte Geschichte erzählt. Gleichzeitig hatte ich 1981 begonnen, Sanssouci und die Skulpturen zu fotografieren. Da haben mir viele genau dieselben Vorwürfe gemacht. Man kann mir schon unterstellen: ‚Du träumst ja. Wie hast du denn deine Zeit erlebt?’ Ich verstehe die Fragen, aber ich kann nur sagen, hier stehe ich, ich kann nicht anders. Ihr habt Recht mit Euern Fragen, und es erklärt doch nichts.

F/Stop: Sie haben im Vorwort zum Buch „Zwölf Tage in Odessa“ über Ihren Kollegen Boris Mikhailov geschrieben: „Das Reale ist für Boris Mikhailov das einzig Kunsttaugliche“. Inwieweit gilt das auch für Sie?

H.S.: Ich bin doch an das Reale nie wirklich rangekommen. Auch die „Geschichte in Bildern“, die ich von der Fährfrau entwerfe, ist eine Idealisierung. Sie versucht, den Wert ihrer Arbeit zu leben, zu feiern.

F/Stop: Sie inszenieren diese Situation...

H.S.: Ich inszeniere sie insofern, als dass ich die Bilder, die ich für meine besten halte, in eine ideale Folge bringe. Aber meistens interessieren mich die Ideen und wie sie sich visualisieren. Wenn Kinder schaukeln, wie in der „Fähre“, betont dieses ewige Hin und Her die Einheit des Ortes, das fast nicht Lebbare. Und wenn die Kinder sich versuchsweise vom Ort entfernen, und auf der nächsten Seite sieht man, sie schaffen das nicht, sie können sich nicht entfernen, dann ist das eine Konstruktion und keine Abbildung von Realität.

F/Stop: Man nimmt Sie in ihren Bildern als empathischen, teilnehmenden und freundlichen Fotografen wahr. Haben Sie diesen Beobachtungsort je verlassen?

H.S.: Brechts Bemerkungen zur Freundlichkeit haben mich beeindruckt. Aber ich hätte es schon gerne ab und zu auch nüchterner gehabt, weil ich in manchen Vorbildern gesehen habe, dass was Ungeheures rauskommt, wenn sich der Stilist in dokumentarischen Angelegenheiten so zurückzunehmen versteht, dass die Dinge selbst anfangen zu sprechen. Das ist was, was ich wahrscheinlich auch nicht kann. Ich habe es versucht, nüchterner aufzuzeichnen. Aber ich habe gemerkt, ich komme da nicht zu überzeugenden Ergebnissen. Ich wusste dann nur eins, dass ich zum Menschen zurück muss und nur noch nicht wieder ganz da angekommen bin.

F/Stop: Wollen Sie Ihre Zeit als Pensionär auch dazu nutzen, Ordnung ins Archiv zu bekommen?

H.S.: Ich habe ein sehr freundliches Angebot von meinem Schüler Jörn Lies, das zu übernehmen. Also, wenn ich’s irgendwie bezahlen kann... Ich konnte noch nie Ordnung halten, weder auf meinem realen Schreibtisch, noch auf dem virtuellen.

F/Stop: Wie wird das Archiv denn angelegt sein? Werden Sie aussortieren?

H.S.: Es gibt bereits thematische Ordner, und es gibt eine chronologische Nummerierung. Da kommt man schon ziemlich weit. Ansonsten ist mir dazu die Lebenszeit zu kostbar.

F/Stop: Es gibt keine Eitelkeit in Bezug auf den Nachlass, der irgendwann entstehen wird?

H.S.: Ich bin dabei, abzuarbeiten und zu sichern und erfahre, dass ich noch viel mehr habe, als ich dachte.

F/Stop: Welches ist Ihr bevorzugtes Format, Ihre bevorzugte Kamera?

H.S.: Kleinbild, aber in letzter Zeit habe ich gerne mit Rollfilm 4,5 x 6 gearbeitet. Ich habe mich nie zwischen Spiegelreflex und Leica entschieden. Ich hänge zu sehr daran, dass man eben auch bei langen Brennweiten immer genau sieht. Für meine ganzen Steine habe ich die langen Brennweiten gerne genommen. Die Steingesichter sind ja meine andere Faszination. In der Ecke, in der Ihr mich seht, bin ich ganz bestimmt nicht.

F/Stop: Was passiert in den nächsten dreißig Jahren?

H.S.: Ich muss die Bücher machen, die auf Halde liegen. Sanssouci muss raus. Die allerschönste Arbeit, das hat mir meine Freundin Angela Krauß gesagt, sind die Familienbilder, die ich zu meinem 60. Geburtstag gemacht habe, die Bilder von meinem Vater, die Familienbilder und wie sich der kleine Helfried da langsam reinschmuggelt. Wollt Ihr nicht noch ein paar Bilder sehen? ...

© Helfried Strauß 2008 - 17