Haltestellen des Lebens
  Eröffnungsrede anläßlich Nikolas von Safft's Ausstellung in Berlin-Lichterfelde 2008

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freunde!

Nikolas von Safft hat mich zu meiner Freude gebeten, heute zu Ihnen zu sprechen über seine neuen Bilder, und die haben mich überrascht, ja zunächst etwas ratlos gemacht, als ich sie zu Hause, wie das jetzt so geht, zum ersten Mal auf dem Bildschirm gesehen habe. Fremd, aber reizvoll; diese Bilder geben mir als Betrachter mehr Arbeit auf als gewöhnlich. Lasse ich mich auf sie ein, werden sie immer vertrauter, und es stellen sich Anzeichen der Ungeduld ein, sie doch bald im Original zu sehen.

Ich bin umso lieber nach Berlin gekommen, weil ich seit November in meiner Schule, die auch für vierzehn Jahre die seine wurde, nicht mehr zum Telefon greifen und die 100 wählen kann, um ihn zu fragen, ob er Zeit hat für einen Kaffee. Die hatte er fast immer, und es gab eine lebhafte kurze Auszeit, aus der man gestärkt zurück ging ans Tagesgeschäft. Als es endlich gelungen war, Nikolas von Saffts Anstellung an der HGB durchzusetzen (die Idee dazu stammte von Arno Fischer), hatte er mir als erstes sein Lieblingsbuch geschenkt, das mir ebenso schnell ans Herz wuchs wie sein Verfasser. Nüchtern betrachtet, war das schmale Bändchen aus der beliebten Reihe Bibliophile Taschenbücher eine Dokumentation stillgelegter S-Bahnhöfe in West-Berlin. Doch sein Titel signalisiert bereits das persönliche Motiv Nikolas von Saffts, diese funktionslos gewordenen HALTESTELLEN DES LEBENS, wie er seine Arbeit nennt, so liebevoll abzulichten. Stellvertretend für alle, die dieser Verlust betraf, musste der Autor diese Trauerarbeit verrichten, denn etwas Deprimierenderes als einen nutzlosen Bahnhof, der die Sehnsüchte, die er wachruft, die Mobilität, die er verspricht, nicht mehr einlösen kann, ist kaum vorstellbar. S-Bahnfahrten, schreibt der Fotograf in seinem „persönlichen Vorwort“, waren die ersten Reisen seiner Kindheit, und er beendet seinen bemerkenswerten Text mit dem Satz: „Ich wäre glücklich, wenn sie (die Bilder) eines Tages nur mehr als historische Dokumente gelten könnten... dann nämlich, wenn die S-Bahn wieder wichtigstes Verkehrsmittel von Berlin ist.“ Manch anderer Schreiber hätte an dieser Stelle den Konjunktiv oder zumindest das Futurum benutzt für die Beschreibung eines offensichtlich auf lange Dauer festgezurrten Zustandes. Unser Mann benutzt für die Beschreibung eines in vager Zukunft liegenden Wunsches das Präsens: „wenn sie es wieder ist?; vor 15 Jahren hat er ihn erfüllt bekommen. So wurde Nikolas von Saffts wieder hergestelltes Glück auch das unsere, nämlich einen mit allen Wässern der hellen und dunklen Kammern getauften Mann als Berater angehender Künstler zu bekommen, die zwar wunderbare Ideen haben, aber noch wenig Erfahrung darin, ihre Visionen auch technisch gekonnt und anspruchsvoll zu realisieren. Lehrkraft mit besonderen Aufgaben war die passende Kategorie dafür. Dass dieser alte freundliche Fuchs immer einen Weg wusste und man als Student immer viel aus Gesprächen mit diesem belesenen, kultivierten Lehrer mitnehmen konnte, hat ihm so manche Freundschaft eingetragen, die bis heute hält. Mit Nikolas von Safft zu sprechen, heißt mit einem Zeitgenossen zu reden, den das Weltgeschehen noch mitnimmt. Als der LIEBE GOTT die Anlage zur Gleichgültigkeit verteilt hat, kann er jedenfalls nicht dabei gewesen sein – war wohl gerade austreten.

Und nun das: Unscharfe Polaroids, von der guten alten SX 70, als Basismaterial, und davon – wozu gibt es die hybriden Verfahren – tafelbildartige ambivalente Gebilde, die auf den ersten Blick Gemälden ähneln. Was es wirklich ist, wollte ich mich nicht festlegen, bevor ich die Originale gesehen habe. Aber Malerei wird es sicher nicht, da ist eine eigenartige Stimmung, die Erinnerung mindestens so gut beschwört wie es seine früheren Bilder von den Bahnhöfen seiner Kindheit getan haben, die Zeugnis ablegen wollten von erlittenem Verlust und die sich zu diesem Zweck noch weitgehend eines dokumentarischen Vorgehens und der entsprechenden Mittel befleißigt hatten: Präzises, frontales Erfassen des Gegenstands aus Augenhöhe, Vergleichbarkeit durch standardisierte Distanzen, Tageslicht, keine direkte Sonneneinstrahlung, Tonwertreichtum – alles nach der Regel. Und doch wirkten auch diese verlassenen Stadtlandschaften fast tendenziös. Trotz ihrer präzisen fotografischen Schärfe, ihrer unbestreitbaren Konkretheit, reichten auch diese Bilder bereits über ihren Anlass hinaus, soviel wird mir im unmittelbaren Vergleich bewusst. Eines von ihnen war mir besonders haften geblieben: In einem der Aufgänge zu den Bahnsteigen entdeckt Nikolas von Safft auf halber Treppenhöhe eine leere Anschlagfläche für Fahrpläne, sauber in zwei Hälften geteilt: die linke rein weiß, die rechte tiefschwarz. Dieser Idealfall von Abstraktion steht symbolisch sowohl für das Thema der Funktionsentleerung als auch für das angewandte Verfahren der SW-Fotografie. Derartige Konstellationen findet man bei intensiver Beschäftigung für jeden Stoff – vorausgesetzt, der Fotograf hat einen Sinn für Zeichenhaftes entwickelt und kann damit souverän umgehen. Solche Bilder sind es auch meist, die neue Themen und Sichtweisen auf unmerkliche Weise vorbereiten, manchmal kommt man erst viel später dazu, einen solchen Ansatz zu vertiefen. Wie stark du mit Erinnerung lebst, wird dir ja meist nur in Lebensumständen bewusst, die Besinnung überhaupt zulassen, ja sie existenziell sogar erfordern. Was in unserem Fall besonders zutrifft: Nikolas hat die Arbeit - als staatsbürgerliche Pflicht - gerade erst niedergelegt, sich jedoch beizeiten auf den Wechsel vorbereitet, also quasi die Last zur Lust gewandelt. Erste Ergebnisse sehen wir vor uns. Eine Menge Konkretes ist auch im engeren Sinne verschwunden, oder es bekommt eine andere Bedeutung. In diesen Veränderungen echten Bedeutungswandel zuverlässig vom Klabauter-Geschäft des Zeitgeistes zu unterscheiden, ist dabei nicht so einfach. Man steckt ja schließlich mittendrin; wächst uns das allzu Konkrete nicht schon viel zu lange über den Kopf?

Nikolas hat mir erzählt, wie alles angefangen hat, und ein bisschen hat mich die Geschichte an eine von Arno Fischers Fotografenweisheiten erinnert, die er – als echter Nestor – auch gerne weitergibt: Wenn ich unterwegs bin, sagt er sinngemäß und mal nicht weiß, was ich als Nächstes fotografiere, mir aber aus Zeitgründen auch keine schöpferische Pause leisten kann, dann spiele ich mit der Technik herum, wechsle Objektive, schau hier und dorthin, bis wieder etwas passiert, das mich in seinen Bann zieht und die Bilder wieder erscheinen. Das merkt man sich als junger Mensch, der solche orientierungsschwachen Phasen sehr wohl kennt. Bei Nikolas vollzog sich das Erweckungserlebnis sozusagen als ein Akt des Aufbegehrens, zu dem ihm Gattin Angelika unbewusst einen alltäglichen Anlass lieferte: Man sitzt, wie so oft, gemeinsam herum, und es gehört schon eine Menge Lebenserfahrung dazu, diese sich immer wiederholende Situation trotzdem und immer, was sie ja letztlich ist, als einzigartig zu empfinden. Einer Eingebung folgend und unter Missachtung aller Handwerksregeln, nach denen man – ihr erinnert euch – im Bild zumindest einen präzisen Schärfepunkt zu setzen hatte, stellt dieser alte Hase seine Polaroid (bei der geht das wenigstens noch) leicht unscharf und fotografiert die Eheliebste, die, um es mit Loriot zu sagen, „bloß mal so dasitzen wollte“. Das Bild war so gut, dass der Autor ihm einen Ehrenplatz im letzten Ausstellungsraum gegeben hat. Da war etwas Unbenennbares zum Vorschein gekommen, das weitere Beachtung verdiente. König Zufall hatte gezaubert und die für den Künstler konkreteste Person hatte sich in den Menschen an sich verwandelt. Dabei spielt es letztlich keine Rolle, ob die Anwesenheit der besten aller Ehefrauen vom Künstler gerade als besonderes Glück oder als gerade allzu anwesend empfunden wurde. Lakonisch (auch so eine besondere Qualität, die ich an meinem Freund verehre) nennt er es nun Frau A. erwartet ihren Ehemann. Das Wiederholungsgebot, das unser Verlangen nach Glück mit solchen Entdeckungen koppelt, macht den Weg zu weiterer Vervollkommnung fast zwingend, und so sehen wir gleich hier im ersten Raum also auch das weiterführende Bild, das für das Porträt überhaupt stehen kann: seine warme, aber gesichtslose Intensität möchte gefüllt werden, es thematisiert unser Verlangen nach dem Anderen. Und – Vorsicht! – wer glaubt, dass ein solches Verfahren mechanisch funktioniert, geht in die Irre – ich bin sicher, dass dieses Bild deshalb so anziehend wirkt, so stark das beschriebene Verlangen aufruft, weil sein Autor im Moment des Auslösens von einem starken Gefühl erfüllt war; vielleicht gibt er mir im Stillen recht. Ich habe versucht, die ersten Schritte möglichst genau nachzuvollziehen, weil – wie im wirklichen Leben auch – die nächsten leichter werden und auch in der Kunst besser nachzuvollziehen sind. Nikolas von Saffts selbst gewählter Urlaub vom allzu Konkreten scheint mir eine kluge schöpferische Geste. Zum einen vollzieht er nach, was das Leben so mit sich bringt, Abschied von der geliebten Residenz, deren Grundstimmungen und Ausblicke in die Welt diese Bilder auch bewahren, zum Teil bereits gespiegelt und überlagert. Der bevorstehende Auszug erinnert einen daran, wie oft man sich in dieser zur eigenen Haut gewordenen Behausung ausgezogen hat. Wie sehr Kleidung die Spur des Anderen sein kann, ist ein altes Thema Nikolas von Saffts und ihm seit seiner Kindheit vertraut. Die Eltern waren glänzende Gesellschafter, von den abendlichen Festen jedoch waren die Kinder ausgeschlossen. Nun, nicht völlig, denn die kluge, fröhliche Mutter hatte den Geschwistern einen Trost verschafft: das Kinderzimmer wurde an solchen Tagen zur Garderobe, und so häuften sich in ihm Berge wohlriechender Mäntel, und die Gäste kamen ab und an zu den Kleinen hereingeschlüpft. So entstehen Obsessionen und der Künstler, wie Gattin Angelika ein Liebhaber der Malerei, muss immer mal wieder einen Mantel malen, und sei´s auf Packpapier. Heute habe ich einen Teil dieser vieldeutigen Bilder nur in kleinen Reproduktionen gesehen und war verzückt – eine Welt für sich! Oder man denke nur an seine berüchtigte Sammlung von Bauarbeiter-Handschuhen – das handfeste Gegenstück eines Künstlers, der vom Zupacken, vom Handwerk, immer ebensoviel gehalten hat wie von den minimierteren Verfahren, die Kraft durch Raffinesse ersetzen.

Hat man erst einmal die Richtung, das ist auch wie beim richtigen Spazierengehen, wird man kühner, weicht aus in die Differenz – und so kommt die Bewegung als eine der anderen Schwestern der Unschärfe ins Spiel: Bewegung beim Auslösen, klingt sowieso gut, oder? Die hintergründigen Titel, die jetzt noch hinzugekommen sind, liefern dem Betrachter noch einen zusätzlichen Anreiz für eine eigene Lesart dieser nicht wirklich auflösbaren Bilder.

Wesentlich erscheint mir für die neuen Bilder Nikolas von Saffts, dass er sein Interesse für den eigenen Lebensraum sowohl erhalten als auch in eine für ihn adäquate Weise ins Bild übersetzt hat. Und hier lohnt es durchaus noch einmal, mit seinen frühen Sehnsuchtsbildern von den Stationen des Lebens (jetzt verstehen wir noch besser, wie poetisch dieser Bildermacher schon immer vorgeht), den Vergleich zu wagen. Denn ich finde in einem allgemeineren Sinn die alten Interessen wieder: Lichterfüllte, durch Licht definierte Räume, die Rolle von Raum und Stimmung für deren authentische Übersetzung ins Bild. Und die Frage, ob die geliebten Gegenstände nicht noch kenntlicher werden – auch für andere, indem der Künstler einen anderen inneren Abstand zu ihnen einnimmt.

Der Unterschied, auch das soll abschließend noch festgestellt werden: War der Anlass im historischen Modellversuch an den S-Bahnhöfen ein Abgleich von Geschichte der eigenen Kindheit (und ihren Glück bringenden Erlebnissen) mit dem unbeeinflussbaren, also letztlich hinzunehmenden Gang der Zeitläufte, sehe ich aktuell – unter gleich bleibenden Versuchsbedingungen – die allgemeinere, uralte Frage, was der Mensch denn sei. Sie muss, nicht nur vom Künstler, immer wieder gestellt werden, weil sie keine Antwort hat. Nikolas, ich bin gespannt auf deine nächsten Bilder und gratuliere zu diesen. Und danke für Aufmerksamkeit.

© Helfried Strauß 2008 - 17