»Weltnest« – Literarisches Leben in Leipzig 1970–1989
  Schlußbeitrag zur Textsammlung in »Weltnest«

Die in diesem Buch vorgestellten Photographien sind im Auftrag entstanden. Das ist auch der Grund, weshalb sie mir lange Zeit keine darüber hinausgehende Bedeutung zu haben schienen. Aus eigenem Antrieb wäre kein einziges dieser Bilder entstanden, schon deshalb, weil ich nicht gerne Veranstaltungen störe, in denen es schließlich ums Zuhören geht. Und wenn mir jemand sagt, was ich zu fotografieren habe, finde ich das auch nicht besonders motivierend. Trotzdem habe ich mir von Hans Marquardt – von ihm ist schließlich der entscheidende Anstoß ausgegangen – öfter anhö-ren müssen, dass ich wieder mal die falschen Leute oder Situationen fotografiert hätte. Aber er war es eben auch, der mich nach einem Versuch mit einem anderen Fotografen reuevoll zurückholte, und von da an war ich Reclams Kronzeuge, einschließlich der durch Barbara Marquardt wohl ver-sorgten, sich den Verlagslesungen anschließenden Abende in der Mozartstraße 17, deren Teilneh-mer – bezogen auf Profil und Interessen der aufgetretenen Gäste – ständig wechselten. Marquardt schuf Kontakte und erwartete von den Eingeladenen aktive Mitgestaltung des von ihm initiierten Prozesses. Diese Begegnungen weiteten meinen Horizont, ich übte mich im simultanen, lernenden Zuhören, während meine Augen ständig auf der Hut waren, keine bedeutsamen Gesten und perso-nellen Konstellationen zu verpassen, von denen jede für sich nur ein einziges Mal geschieht. Aber während für den Verlagschef wesentlich war, wer auf dem Bild ist, gab für mich immer den Aus-schlag, wie ich meine Helden erwischt habe und bei der ersten umfassenden Zusammenschau des Materials vor drei Jahren konnte ich nicht mehr übersehen, dass ich etwas vom Zeitklima getroffen hatte, das trotz der auftragsbedingten Einschränkungen des Personenkreises eine Bedeutung hatte, denn ich hatte ja in dieser Zeit nicht den Ehrgeiz, Bilder aller jemals in Leipzig aufgetretenen Lite-raten zusammenzutragen.

Das spezifische Klima von Tischgesellschaften fasziniert mich bis heute – möglicherweise mein Generalthema die ganze Zeit über, denn auch der Schriftsteller setzt sich ja zum Lesen an ei-nen solchen. Der diensthabende Tisch des Gohliser Schlösschens (samt seinem seltener zum Ein-satz kommenden Kollegen) war der reinste Anachronismus. Er verhalf mir zu einem witzigen Bild, als Walter Jens zu Beginn seiner Kiepenheuer-Lesung dessen Wackeln bemerkte und der Verlags-leiter ihm beispringt: Roland Links schiebt (von links natürlich) einem Linken etwas unter (das linke Tischbein). Strauß fotografiert, und alles lacht. Die besondere Ausdrucksfähigkeit des Leipzi-ger Publikums nennt Martin Walser das, nicht nur er hat sie bemerkt. Autoren aus der Bundesrepu-blik oder dem Ausland, die dieses Temperament und heftige Interesse schon kannten, kamen – zur weiteren Pflege der Vorliebe – gern wieder, wer sie zum ersten Mal erfuhr, war gewonnen. Auf solche Höhepunkte freute man sich schon Wochen vorher: Endlich Peter Rühmkorf selbst erleben, dessen Gedichte mich schon lange begeistert hatten; abends, an Marquardts Schreibtisch, begegnet Heinz Czechowski seinem norddeutschen Kollegen zum ersten Mal, und ich war dabei: Dessen Hausaufgabe – Signieren für den Verlag – musste sich erst mal gedulden. Das Bewusstsein, etwas von geschichtlicher Relevanz so aufzeichnen zu können, dass es Menschen auch viel später noch interessieren kann – und zwar ohne Kenntnis aller Fakten, hat etwas Herausforderndes. Aber mit derlei Fähigkeiten kommt man schließlich nicht auf die Welt, man erlernt sie, weil man etwas für wichtig erachtet. Ich kam mir in dieser Hinsicht nie sonderlich gerüstet vor, vielleicht habe ich des-halb die Begegnung mit Walter Ballhause gesucht, nachdem ich in der Zeitschrift fotografie seine ersten Bilder aus der Zeit vor der faschistischen Machtergreifung gesehen hatte. In ihnen trafen sich historisches Bewusstsein, menschliche Anteilnahme und eine im Dienste des Mitzuteilenden ste-hende formale Klarheit in derart seltener Intensität, dass ich es lange nicht fassen konnte – er hatte die Bilder schließlich als Zwanzigjähriger gemacht. Also bedrängte ich Hans Marquardt, aktiv zu werden, keinem anderen Verleger in der DDR traute ich das für eine politisch so brisante Heraus-gabe gebotene Durchsetzungsvermögen zu. Cheflektor Hubert Witt hatte dann die glänzende Idee, die Bilder gemeinsam mit frühen Becher-Gedichten jener Zeit zu veröffentlichen, die wohl anders die Chance, isoliert vom späteren und wesentlich schlechteren Werk des ersten Kulturministers der DDR zu erscheinen, kaum gehabt hätten, weil dieser selbst den Maßstab, den ihm das eigene Früh-werk hätte setzen können, offenbar verdrängt hatte. So etwas wirkte unter den gegebenen Umstän-den lange nach. Walter Ballhause hat diese Verlagsstrategie zwar akzeptiert, aber inhaltlich nie ge-billigt. Bechers bürgerliche Herkunft stand quer zu den ihn prägenden Jugenderfahrungen: Bei sol-chen Familien war seine Mutter allenfalls waschen gegangen. Und doch taugte dann ein poetischer Terminus Bechers ideal als Titel für Ballhauses Arbeitslosen-Welt: überflüssige menschen. Ball-hause, initiiert durch seine Verehrung für bildende Künstler, die mit ihrem Werk für die Armen und Unterdrückten eintraten, wie Kollwitz oder Barlach, hatte seine Entscheidung für die Fotografie auf der Höhe seiner Zeit getroffen, der Einsicht nämlich, dass man eine soziale Zielstellung (spätestens nach Erfindung der Leica) mit diesem Medium weit effektiver verfolgen könne. Mich hat er in der Einstellung bestätigt, dass nichts über eine Teilnahme am wirklichen Leben der Vielen geht, denn sie sind letztlich die geschichtlichen Akteure. Ein zusätzlicher Grund, wie mir heute scheint, wes-halb ich meinen Fotografien Prominenter nicht allzu viel Aufmerksamkeit schenkte. Zu viel Eitel-keit im Spiel, mit der ich schlecht umgehen kann.

Da ich das Neinsagen aber noch schlechter beherrsche, kamen im Laufe der Zeit weitere Auf-traggeber hinzu: die Kiepenheuer-Verlagsgruppe unter ihrem charismatischen Leiter Roland Links, die Abteilung Kultur beim Rat der Stadt – die Veranstaltungsreihe Schwatzmarkt war interessant, weil ich mich hier intensiver mit Schriftstellern und den Facetten ihres Lebens befassen konnte, sie wurden für mich als Menschen fassbarer. Am spannendsten war aber in dieser Hinsicht die Chance, am Leben des Literaturinstituts teilzunehmen, seine Lehrer und Studierenden ein Jahr lang mit der Kamera zu begleiten. Kostbare Einsicht aus dieser Zeit: In der Kunst herrschen überall die gleichen Gesetze, auch wenn sie sich im jeweiligen Medium anders äußern. Und so liegt unter allen hier zu sehenden Fotografien der Generalbass eines essentiellen und ganz persönlichen Gewinns.

Ich war immer auch ein Hörender, ich konnte die mitunter kräftezehrende Stummheit des Bil-des vergessen, zuhören und das Bildermachen mit einem heilsamen Automatismus betreiben, des-sen Bedeutungshöhepunkte sich in glücklichen Fällen mit denen des intellektuellen Prozesses tra-fen. Immer war Rhetorik im Spiel, von der ich gern, ja begierig profitierte, da ich in meinem Dop-pelberuf als Lehrender ebenso darauf angewiesen war, meinen Studenten – um mit Wittgenstein zu sprechen – gut zu sagen, was ich zu sagen hatte. Unvergesslich – sicher auf völlig andere Art als Georg Maurer, den ich nicht mehr erleben durfte – ist mir Gerhard Rothbauer, dem der Tisch, auf dem er (wie bei Thomas Böhme nachzulesen) gewöhnlich saß, bei steigender Erregung zur Akti-onsplattform für den ganzen Körper wurde. Von intellektuellem Lümmeln bis ergriffenem Hinge-gossensein im Dienste des Zusammenhangs, körperliches äquivalent stilistischer Ahnungen, Wahrhaftigkeit und Raffinesse. Das, scheint mir, war die kostbare Mitgift, die dieser einfühlsame und einsame Radfahrer seinen Studenten schenkte.

Besonders froh bin ich über die einführenden Bilder vom Buchmarkt – normale, wie uns 10 Jahre lang schien, Kulminationspunkte des pulsierenden Literaturbetriebs, verblüffende Illustration eines reichen Mangels. Wollte man den Massensprint zu den Büchertischen, deren Zusammenbre-chen durch Menschenketten aus gestressten Buchhändlerinnen und Verlagsmitarbeitern meist gera-de noch verhindert werden konnte, verbal schildern, gälte man als Aufschneider – ich aber habe die Fotos. Die Negative, muss ich ja heute hinzufügen, keine beliebig manipulierbaren Datensätze. Ei-ne andere, eine verlorene Wirklichkeit liegt ihnen zugrunde. Dieser Verlust trat ja an der Höfgener Fähre auch viel schneller ein, als ich geglaubt hätte. Wenige Jahre nach Erscheinen des Buches wa-ren meine geliebte Fährfrau samt der an ihr Wirken gebundenen Aura von dort verschwunden – erstes Gebot jeglicher Bezeugungsabsicht: Nicht bald tun, sondern sofort!

Helfried Strauß, Leipzig im Herbst 2007

© Helfried Strauß 2008 - 17