Eröffnungsrede zur World Press Photo 2007 in Leipzig

Eine Leistungsschau publizistischer Fotografie wie die heute zu eröffnende verführt zunächst zum Nachdenken über die Welt, die sie ja explizit im Namen führt. Auch ich habe das getan, als ich den gewohnt vorzüglichen Katalog zum ersten Mal in der Hand hielt; mir scheint, ich habe überhaupt noch nie einen WORLDPRESS - Katalog so lange und intensiv studiert wie in diesem Jahr, obwohl es in ihnen immer schon viel zu sehen – und zu lesen – gab. Man liest diese Texte wirklich, man will wis-sen, wovon, von wem die Bilder handeln, was konkret geschehen ist an den Orten, die die Fotografen für uns oft nur unter größten Strapazen erreichen - einschließlich der Ungewissheit, ob sie je heil von dort zurückkommen.

Sagt das etwas gegen die Kraft des fotografischen Bildes, die wir manchmal fast formelhaft beschwö-ren? Nein, allein das 2005 erschienene retrospektive Bändchen Fifty Years of WORLD PRESS PHO-TO, das die Gewinnerbilder seit 1955 chronologisch aneinander reiht, widerlegt diese Befürchtung auf schlagende Weise, weil sich mir gerade die ältesten Bilder dieses Kompendiums derart eingebrannt hatten, dass mir ihr Verschwinden aus dem kollektiven Gedächtnis nahezu unmöglich erscheint. Wäh-rend Begriffe, Fakten, Informationen offensichtlich dem Vergessen rascher anheim fallen, bleiben uns starke Bilder viel länger treu. Sie scheinen aus einem schwer benennbaren Grund wesentlich zu sein, der eindeutig nicht auf der Seite des Kontextes liegt. Ob, wie viel und was eigentlich von der wirkli-chen Welt in den Bildern ist, bleibt eine beliebte Streitfrage, die nicht nur publizistisch tätige Fotogra-fen beschäftigt, deren Anspruch und Auftrag es ist, uns täglich neue Bilder von der Welt zu bringen. Oder tun auch sie das in Wirklichkeit gar nicht und betreiben in Ihren Bildern vor allem Werbung für ihr eigenes Produkt, das ja möglichst besser sein muss als die Bilder der vielen Konkurrenten?

Wenn – sagen wir - ein Student der HGB mit seinem Portfolio in eine Redaktion kommt, für die er arbeiten möchte, dann steht die Brauchbarkeit, letztlich die Einschätzung einer künftigen Marktfähig-keit seiner Sicht auf die Welt für die Zwecke und Auffassungen dieser Redaktion zur Disposition, ent-scheiden also durchaus subjektive Kriterien über eine subjektive Sicht. Es ist etwas in den Köpfen der Redakteure, das entscheiden muss, ob das, was die/der Neue kann, die Köpfe der betrachtenden Leser – und möglichst die Herzen dazu – erreichen wird. Wirklichkeit ist da immer noch draußen. Eine verflixte Sache ist das. Für beide Seiten gilt in jedem Fall, was Henri Cartier-Bresson, der ja auch ei-ner der Väter des modernen Bild-Journalismus ist, mit so unnachahmlicher Geste demonstrieren konnte: „Man muss den richtigen Riecher haben!“

Was aber immer auch heißt, zum richtigen Moment am richtigen Fleck und auf der Hut zu sein. Fin-barr O´Reilly, der Autor des diesjährigen Titelbildes, war an einem solchen Ort und meint, dass der in der Welt immer noch die meisten Toten verursachende Hunger im vergangenen Jahr viel zu wenig Aufmerksamkeit bekommen hat und der aufgrund seines Preises hoffen kann, dass auch durch sein Bild Afrikas Probleme stärker wahrgenommen werden. Dank eines Interviews können wir das Entste-hen des Preisträgerfotos nachvollziehen: Selbst Opfer einer Nahrungsmittelvergiftung, saß O´Reilly fiebernd und völlig erschöpft im Lager abseits der schönen Mutter mit ihrem fast verhungerten Kind auf einem Stuhl. Da bemerkt er, wie das dürre Kinderhändchen, das eher schon an das eines kleinen äffchens denken lässt, sich langsam emporhebt und suchend über das Gesicht der Mutter tastet. O´Reilly erfasst instinktiv die Chance und macht mit Serienschaltung und langer Brennweite eine kom-plette Bildreihe dieses zeichenhaften Vorgangs.

Die Motorkamera, die Cartier-Bresson übrigens niemals benutzt hätte, und die ihr folgenden Entwick-lungen haben auch den Bildjournalismus zu Teilen der Industrialisierung unterworfen, denn die ge-steigerte Aufmerksamkeit, die ein solcherart gerüsteter Bildspezialist zwangsläufig hervorruft, der in der Regel auch nicht allein, sondern mit einem Pulk von Kollegen kommt, hat das Ideal des unauf-dringlichen Fischens im Fluss der Zeit ins Reich der Legende verbannt. Vielleicht holt es ja irgendei-ner einmal von dort zurück, denn wie sagte der Meister vor ca. 50 Jahren noch so treffend: „Man schlägt ja auch nicht auf den Fluss, wenn man Fische fangen will“. Vorbei. Derzeit leben wir, wie mir manchmal scheint, in einer einzigen großen Inszenierung, an der nicht teilzunehmen uns nicht mehr frei steht. Schauen Sie der Mutter ins Gesicht und Sie können sehen, dass sie sich ihrer Teilhabe an dieser kollektiven Produktion durchaus bewusst ist, ja, dass sie damit einverstanden ist. Möglicher-weise hat ja ihre übereinkunft mit dem als Helfer erlebten Fotografen die Wirksamkeit dieses berüh-renden Bildes noch gesteigert.

Finbarr O´Reilly übrigens ist als Journalist zu Ehren gekommen, als er noch glaubte, dass das Wort wichtiger sei als alle Bilder. Inzwischen denkt er anders und hat sich seit zwei Jahren ganz der Foto-grafie verschrieben. So sind wir also doch von der so schwer zu bestimmenden Wirklichkeit zurück zu unserer Vorstellung von ihr gekommen, an der die von vielen geliebte Fotografie so lebhaften Anteil hat. Wir glauben manches von guten Bildern her so gut zu kennen, dass uns die raue Wirklichkeit eher überrascht. Vorstellungen sind immer anders als Realität, auch die, die ich mir als Fotograf vor dem Einsatz von einem Ort oder Ereignis mache: ideal, geglättet, bestimmt von mangelnder Kenntnis etc. Und erst recht sind es die durchkomponierten Bilder und Serien, die doch im ausdauernden Kontakt mit dieser Wirklichkeit entstanden sind und die wir hier bewundern.

Die Welt bleibt die Welt und Bilder von ihr bleiben Bilder; und das ist gut so. Journalist wie Künstler schaffen Beispiele von hoher Einprägsamkeit, und bei den diesjährigen Ergebnissen gibt es da Her-ausragendes. Gerade jetzt, wo es für viele erwiesen scheint, dass die digitale Aufzeichnung alles Da-gewesene verdrängen wird, sehen wir eine starke SW-Fraktion mit geradezu archaischen Beispielen, aufgenommen von italienischen, dänischen, niederländischen, australischen, griechischen, polni-schen, ungarischen, irischen und amerikanischen Fotografen. Man kann der Redaktion des Heftes nur gratulieren, wie sie durch ihre Regie die Kontraste, die die Welt erschüttern und durcheinander schüt-teln, auch im Katalog bereits in der Alltagsdarstellung aufeinander prallen lässt: Bedarf das in den aufeinander folgenden Serien der technologisch hochgerüsteten Philly Roller Girls (David Maialetti, USA) und der über Nada Kusti , eine jahrtausende alte Form indischen Ringens (Tomasz Gudzowa-ty/Judit Berekai, Polen/Ungarn) zum Ausdruck kommende unterschiedliche Körpergefühl noch irgend-eines Kommentars? Wohl nicht, denn sie sind so angelegt, dass sie die Betrachter - abhängig von ihrem eigenen kulturellen Kontext - polarisieren werden.

Ich lasse hier bewusst die spektakulärsten, hochpolitische Ereignisse betreffenden Arbeiten uner-wähnt, weil ihnen ohnehin allererste Beachtung sicher ist.

Gemessen am unerträglich reduzierten Grundbestand an Lebewesen und lebendigen Phänomenen unserer Welt überhaupt, um noch ein Beispiel herauszugreifen, finde ich es mindestens so wichtig, durch WORLD PRESS PHOTO mit dem Flughund Merkurius bekannt geworden zu sein. Merkur, der geflügelte schlaue Götterbote und Begleiter aller Reisenden, soll seinem nächtens fliegenden Na-mensvetter möglichst viele seiner besten Eigenschaften verleihen – er wird sie zum überleben ebenso brauchen wie wir die vielen phantastischen Bilder dieser Ausstellung.

Möge also ihren Organisatoren die Kraft niemals ausgehen, damit uns weiterhin Kunde wird von den wichtigsten Blicken, Gesten und Schicksalen des Menschen auch in diesem so dramatisch gestarte-ten Jahrhundert.

Helfried Strauß, Leipzig den 9. Januar 2007

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